Vor 75 Jahren wurde die Marke zum Volumenhersteller
Oft sind die unscheinbaren Autos, die ihre Hersteller retten. So auch bei Alfa Romeo. Drei Bombenangriffe zerstören 1943 drei Fünftel des Stammwerks in Portello. Als schließlich alles vorbei ist, heißt es erst einmal aufzuräumen, denn der Schutt soll der neu keimenden Hoffnung Platz machen. So wird das Werk mit Hilfe der 5.000 Angestellten wieder aufgebaut.
1946 hört die Firma auf den Namen "Alfa Romeo S.p.A." und als erste Automobile verlassen überarbeitete Versionen des Typs 6C 2500 die Werkshallen. Ein Luxuswagen aus Vorkriegszeiten mit entsprechendem Preis. Nicht gerade das passende Produkt im wirtschaftlich darniederliegenden Europa.
Mit Ende des Krieges geht zudem ein schleichender Wandel im Fahrzeugbau einher. Die beginnende Massenmotorisierung macht die Entwicklung weg von der Fahrzeugmanufaktur und hin zum Serienhersteller notwendig. Neben den immer weniger gefragten, sehr aufwendigen und entsprechend teuren Automobilen fordert der Markt zunehmend seriengefertigte, erschwingliche Fahrzeuge. Als Chefkonstrukteur übernimmt Orazio Satta Puglia das Ruder und vollzieht mit Alfa Romeo diesen Schritt.
Im Jahr 1950 läuft der erste vierzylindrige Alfa Romeo 1900 in Portello vom Band. Das Fahrzeug ist eine Sensation. Obgleich die Technik dem für die Marke gewohnt hohen Standard entspricht, erstaunt der Auftritt des Luxus-Fahrzeugproduzenten Alfa Romeo im Mittelklassesegment nicht nur die Fachwelt.
Der 1900 ist der erste Alfa mit selbsttragender Karosserie und einer aufgrund des Designs und seiner im Vergleich zu den in dieser Zeit dominanten Kleinwagen imposanten Erscheinung. Zudem verbindet er erstmals den Komfort einer Limousine mit der Fahrdynamik eines Sportwagens. Die Karosserie trägt bereits gestalterische Züge der späteren Giulietta. Im Innenraum gibt es Platz für fünf Personen und damit erfüllt der Wagen das nicht nur in Italien wichtige Prädikat "familientauglich".
Besonders begeistert das Cuore Sportivo, das sportliche Herz des Alfa 1900: Der Vierzylinder-Reihenmotor leistet 90 PS aus 1.884 ccm Hubraum und bringt es auf eine für damalige Verhältnisse hohe Spitzengeschwindigkeit von 150 km/h. So manch ein Sportwagen hat da das Nachsehen. Erst recht, wenn die Wahl auf den 180 km/h schnellen Alfa 1900 TI oder gar den Alfa 1900 Super fällt; letzterer ist bereits unglaubliche 190 km/h schnell.
Kein Wunder, dass dieses Auto in den 1950er-Jahren auch von prominenten Fahrern wie dem damaligen italienischen Staatspräsidenten oder dem amerikanischen Jugendidol der Nachkriegszeit, James Dean, pilotiert wird. Und auch den Motorsport mischt der Alfa 1900 bereits kräftig auf. Er fährt Erfolge bei Klassikern wie der Targa Florio, Stella Alpina, Coupe des Alpes oder der Frankreich-Rundfahrt ein.
Auch dies ist kein Zufall: Das überzeugende Fahrwerk korrespondiert hinsichtlich seiner dynamischen Eigenschaften und Sicherheitsreserven hervorragend mit den starken Motoren. Zudem bremst der Alfa 1900 mindestens ebenso gut wie er beschleunigt. Und zwar dank eines für die frühen 1950er echten Novums: rundum Scheibenbremsen.
Mit dem 1900 gelingt Alfa Romeo der Schritt von der Fahrzeug-Manufaktur zum Großserienhersteller. Bereits nach vier Jahren hat die Zahl der 1900er die Produktionszahl der ersten 40 Jahre von Alfa Romeo überschritten. Für die Mailänder Traditionsmarke ist damit die Zukunft gesichert. Auch diese noble Limousine ist auf der Rennstrecke wie im Großstadtverkehr anzutreffen. Bald gesellen sich verschiedene Coupé-Varianten zur Limousine.
Im Nachkriegs-Deutschland bleibt der teure Wagen indes eine seltene Erscheinung: Erst warten die Deutschen noch auf ihr Wirtschaftswunder und später müssen sie für einen 1900 Super Sprint mit Touring-Superleggera-Karosserie soviel bezahlen wie für Luxus-Sportwagen aus heimischer Produktion.
Grundlage der sportlichen Modelle von Touring, Pinin Farina oder Zagato ist das 1900-C-Fahrgestell. Das C steht für "Corto", also kurz. Präzise: minus 13 Zentimeter. Allerdings bleiben die Ableger der Karosseriebauer selten, der 1900 SSZ von Zagato etwa entsteht zwischen 1954 und 1955 in lediglich 39 Einheiten.
Zwischen 1952 und 1957 baut Alfa auch eine L-Plattform (Lungo: lang). Auf dieser basieren der luxuriöse 1900 Primavera von Boano, 281 Fahrzeuge entstehen bei der Carrozzeria Ellena. Aber auch 95 Exemplare des 1900 Ministeriale mit 3,08 Meter Radstand für Ministerien. Der wohl ungewöhnlichste 1900er von Alfa Romeo ist der "Matta"-Geländewagen alias 1900 M. Der 1,9-Liter-Vierzylinder leistet hier 65 PS. Über 2.000 Einheiten werden produziert. 17.390 sind es bis Ende der 1950er-Jahre von der 1900 Limousine sowie 1.800 Sprint und Super Sprint. 1958 erschien der 2000 als Nachfolger des 1900.