650 PS, Allrad, Drift-Mode und Launch Control - aber kann dieser Elektro-Renner auch Alltag?
Mattblau schimmernd, breit kauernd und ziemlich futuristisch - der neue Kia EV6 GT macht zumindest optisch keine Gefangenen. Nachdem wir das neue Flaggschiff der Baureihe bereits auf der Teststrecke probieren durften und eine Menge Spaß hatten, stand nun der ausführliche Alltagstest auf dem Programm. Und hier zählt mehr als reine Leistung und Rennstreckenperformance.
Der Kia EV6 GT ist so etwas wie der Draufgänger in der Familie. Während der normale EV6 trotz seiner progressiven Optik als braver Strom-Crossover durchgeht, schwingt sich der GT zum Elektro-Sportler auf und hängt mittlerweile sogar einen Ferrari Purosangue im Printduelle ab. Schon die erste Version sorgte mit 585 PS für Aufsehen und ließ so manchen Verbrenner alt aussehen.
Jetzt hat Kia nachgelegt: Mehr Ausstattung, geschärftes Design, neue Software - und ein überarbeitetes Bedienkonzept. Geblieben ist das grundsätzliche Prinzip: brutale Leistung gepaart mit dem Anspruch, auch im Alltag bestehen zu können. Ob das gelingt, zeigt unser ausführlicher Test mit dem 650 PS starken Facelift-Modell.
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Schon auf den ersten Blick macht der EV6 GT klar, dass er nicht zum Streicheln, sondern zum Angasen gebaut wurde. Besonders in Yacht Blau Matt wirkt der sportliche Crossover wie ein Konzeptauto, das es irgendwie in die Serie geschafft hat. Die neue Front mit den scharf gezeichneten LED-Leuchten und dem Star-Map-Tagfahrlicht verleiht dem Kia einen futuristischen Auftritt, der sich angenehm von der Masse abhebt. Die GT-spezifische Schürze mit angedeuteten Lufteinlässen unterstreicht den sportlichen Anspruch genauso wie die schwarzen Seitenschweller, die 21-Zoll-Felgen und die giftgrünen Bremssättel.
Am Heck geht es im gleichen Stil weiter. Die durchgehende Lichtspange mit dem integrierten Spoiler ist geblieben, neu ist der knackige Diffusor mit deutlich aggressiverer Kontur. Das alles wirkt wie aus einem Guss und bringt den Spagat zwischen Showcar-Charme und Alltagstauglichkeit ziemlich gut auf den Punkt. Aus diesem Grunde wurde wohl auch auf einen Heckwischer verzichtet. Nicht schlimm, denn zumindest ab Autobahntempo bleibt die Scheibe erfreulich sauber.
Innen gibt sich der EV6 GT genauso kompromisslos wie außen - zumindest auf den ersten Blick. Alles ist schwarz auf schwarz mit noch mehr Schwarz. Wer es sportlich und ernst meint, dürfte sich daran nicht stören. Für alle anderen sorgen grellgrüne Akzente an Nähten, Lenkradmarkierung und Sitzen für etwas visuelle Abwechslung. Die Sportsitze selbst sind ein zweischneidiges Schwert: gut geformt, starker Seitenhalt, aber wenig bis gar nicht einstellbar. Keine ausziehbare Oberschenkelauflage, keine verstellbaren Seitenwangen, nicht mal eine Lordosenstütze - schade, gerade für lange Strecken oder größere Fahrer.
Trotzdem sitzt man angenehm fest und überraschend bequem. Die Sitzposition ist sportlich, aber etwas zu hoch - dem dicken Akkupaket unter dem Boden geschuldet. Sitzheizung und Sitzlüftung - eine Seltenheit bei Stoffsitzen - sind serienmäßig an Bord. gerade die Sitzlüftung kühlt dermaßen stark, dass man um sseine Nierengesundheit fürchten muss ...
Auch in der zweiten Reihe geht es erfreulich großzügig zu. Dank des langen Radstands gibt es reichlich Knieraum, der Kniewinkel ist für ein E-Auto akzeptabel. Zwar sitzt man wie üblich etwas tiefer und mit leicht angewinkelten Beinen, doch andere Stromer machen das deutlich schlechter. Die Rückbank lässt sich in der Neigung verstellen, auch lange Mitfahrer haben hier keine Platzangst. Eine dreistufige Sitzheizung ist ebenso an Bord wie zwei USB-C-Anschlüsse.
Der Kofferraum ist mit 480 Litern Volumen alltagstauglich, auch wenn die stark geneigte Heckscheibe die Beladbarkeit etwas einschränkt. Die Rücksitze lassen sich serienmäßig im Verhältnis 60:40 umklappen, dann entsteht eine fast ebene Ladefläche mit bis zu 1.260 Litern. Unter dem Ladeboden ist allerdings kaum nutzbarer Stauraum, die Kabeltasche fliegt deshalb lose im Kofferraum herum - inklusive entsprechender Geräuschkulisse. Gut: Das Heckrollo lässt sich je nach Anstellwinkel der Rückenlehne in zwei verschiedenen Positionen befestigen und verhindert so eine unschöne Lücke. Einen Frunk unter der Fronthaube gibt es dagegen leider nicht.
Dafür entschädigt das Cockpit mit cleveren Details. Etwa die multifunktionale Touchleiste unterhalb des zentralen Bildschirms, die sich je nach Bedarf zwischen Klimabedienung und individuell belegbaren Favoriten umschalten lässt. Dazu zwei klassische Drehregler für Lautstärke und Zoom - simpel, praktisch, gut.
Die Touchscreen-Oberfläche wirkt optisch etwas trist durch ihre einfarbigen Icons, was die schnelle Unterscheidung der verschiedenen Flächen während der Fahrt unnötig erschwert. Kabelloses Apple CarPlay und Android Auto starten schnell, laufen stabil und nutzen die volle Bildschirmfläche aus.
Auch das digitale Kombiinstrument überzeugt: gut ablesbar, individualisierbar, verschiedene Layouts, und trotzdem keine Überforderung. Der Bordcomputer ist stets erreichbar, das ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Tasten am Lenkrad sind tatsächlich Tasten, kein Touch-Schnickschnack - erfreulich. Und selbst der Drehregler für die Gangwahl sitzt dort, wo er hingehört, funktioniert einwandfrei und ist intuitiv bedienbar.
Richtig praktisch wirds beim Thema Ablagen: Die Mittelkonsole ist durchgängig offen, bietet eine riesige Ablage unterhalb der Bedieneinheit, dort passen sogar kleinere Rucksäcke rein. Dazu zwei Dosenhalter, eine induktive Ladeschale, große Türtaschen, ein echtes Handschuhfach mit mechanischer Öffnung - alles da. Nur eine Sonnenbrillenablage im Dach fehlt, schade. Bonuspunkte gibts für das Split-Screen-Navi: Auch bei aktiver Navigation lassen sich Zusatzinfos wie Kamera, Wetter oder Kompass dauerhaft einblenden. Das kennt man so von Kia, Hyundai oder Genesis - und es ist tatsächlich äußerst praktisch.
Unter der Haube arbeiten zwei Permanentmagnet-Synchronmotoren - einer an jeder Achse. Gemeinsam liefern sie im GT-Modus bis zu 478 kW (650 PS) Systemleistung und ein maximales Drehmoment von 770 Nm. Der Spurt von 0 auf 100 km/h gelingt in 3,5 Sekunden, die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 260 km/h. Möglich macht das auch ein Launch-Control-Modus, der die volle Leistung freischaltet.
Der 84-kWh-Akku (brutto) ermöglicht eine WLTP-Reichweite von bis zu 424 Kilometern. Die kombinierte Systemspannung beträgt 800 Volt, was ultraschnelles Laden erlaubt. Die maximale Ladeleistung an DC-Schnellladesäulen beträgt 240 kW - theoretisch lassen sich so 10 auf 80 Prozent in nur 18 Minuten aufladen.
Die Rekuperation lässt sich stufenlos über die Lenkradpaddel anpassen - inklusive echter One-Pedal-Funktion (i-Pedal). Die muss jedoch bei jedem Neustart per Zug an der "Schaltwippe" erneut aktiviert werden. Wer das vergisst, erlebt beim ersten Lupfen einen Schreckmoment in Form eines ausbleibenden Bremsmomentes.
Dank 800-Volt-Architektur und hoher Ladeleistung ist der EV6 GT prädestiniert für schnelles Nachladen. In der Praxis klappt das auch - sofern die Ladesäule mitspielt. An einem freien 300-kW-Lader trafen wir mit 255 kW sogar fast auf den Punkt die Werksangabe für die maximale Ladeleistung, welche das System erfreulich lange beibehielt. So konnten wir von 13 auf 80 Prozent in nur 19 Minuten laden. Sobald ein zweites Auto an derselben Säule hängt, bricht die Leistung natürlich deutlich ein - im Test auf unter 150 kW, was die Ladezeit. deutlich verlängert.
Die Ladeplanung im Navi ist nun serienmäßig und funktioniert zuverlässig, plant aber sehr konservativ - viele kurze Stopps mit hohem Restladezustand. Wer manuell plant und lieber weiter fährt, spart Zeit. Auf der Strecke Berlin-München ließ sich ein Stopp einsparen, was 20 Minuten brachte. Trotzdem mussten wir aufgrund des hohen Verbrauchs öfter laden, als uns lieb war.
Der Verbrauch hängt stark vom Fahrprofil ab. Im Stadtverkehr bei ruhiger Fahrweise waren unter 20 kWh/100 km möglich, mit viel Rekuperation sogar 17. Auf der Autobahn steigen die Werte deutlich: 27-28 kWh bei 130 km/h, über 30 kWh bei höherem Tempo. Die Reichweite liegt realistisch bei 270-300 Kilometern. Mehr ist nur mit Verzicht und Zurückhaltung drin, was bei einem Auto mit 650 PS und einem Topspeed von 260 km/h nicht ganz leicht fällt. Jedes lustvolle Beschleunigen erzeugt so direkt "Reichweiten-Gewissensbisse". Die Anzeige im Kombiinstrument ist anfangs zu optimistisch - 20 bis 30 Prozent sollten abgezogen werden.
Für den Spieltrieb im Alltag verfügt nun auch der EV6 GT über das aus dem Hyundai Ioniq 5 N bekannte und gefeierte simulierte Schaltgetriebe. Hier wird nicht nur ein synthetischer Motorsound eingespielt, sondern man kann die "Gänge" mittels Schaltwippen wechseln und spürt sogar entsprechende Rucke im Fahrzeug. Das Ganze fühlt sich extrem authentisch an, sodass man schnell vergisst, dass es sich um eine Simulation handelt.
Sogar das Abregeln im "Drehzahlbegrenzer" wird äußert realistisch eingespielt und haut einen in die Gurte, dass man Angst um die teure Technik bekommt. Nur der Sound klingt doch sehr nach billiger Spielkonsole. Trotzdem hält sich der Unterhaltungswert auf Dauer in Grenzen. Beim Rumbolzen auf dem Track oder der Landstraße ist das spaßig, im Alltag eher unnötig.
Im Alltag fährt sich der EV6 GT überraschend sanft. Im Normalmodus spricht der Antrieb weich, aber kraftvoll an. Je nach Fahrmodus wird er aggressiver - im GT-Modus beinahe sprunghaft. Das Auto schiebt dann derart vehement nach vorn, dass man fast erschrickt. Traktion ist auch bei Nässe stark, die elektronischen Helfer regeln früh, aber effektiv.
Das größte Problem ist die Lenkung. Sie ist in allen Modi zu schwergängig, fühlt sich unharmonisch an und bietet kaum Rückstellmoment. Nach langsamen Kurven kommt das Lenkrad nicht selbst zurück in MIttelstellung, man muss aktiv zurückdrehen. Das eckige Lenkrad verstärkt den unnatürlichen Eindruck. Locker aus dem Handgelenk lenken? Fehlanzeige. So wirkt das Auto viel unhandlicher, als es eigentlich ist.
Das Fahrwerk hingegen liefert, was man von einem Performance-Modell erwartet. Im Komfortmodus noch alltagstauglich, im Sportmodus deutlich straffer. Kleine Bodenwellen regen das Fahrzeug dann zum Hoppeln an - auf der Landstraße oder Rennstrecke aber bleibt der GT sauber und stabil. Seitenneigung ist kaum vorhanden, die Lenkbefehle werden direkt umgesetzt. Der niedrige Schwerpunkt tut ein übriges, um das sportliche Kurvenverhalten zu unterstützen.
Mit den Michelin Pilot Sport 4S ist der EV6 GT angemessen sportlich bereift. Im Trockenen liefern französischen Pneus viel Grip, bei Nässe schwimmt der Reifen allerdings früh auf. Nicht nur in Autobahnabfahrten bei Regen kommt das hohe Gewicht von über 2,1 Tonnen deutlich zum Tragen - das Fahrzeug untersteuert spürbar.
Die Bremsanlage mit 4-Kolben-Festsätteln vorne packt ordentlich zu. Im Alltag wird sie jedoch selten gefordert - die Rekuperation übernimmt den Großteil. Bei Regen kann das zur Folge haben, dass die Bremsscheiben kalt und nass bleiben. Dann dauert es einen Moment, bis wieder volle Bremsleistung zur Verfügung steht.
Trotz sportlicher Gene zeigt sich der Kia EV6 GT beim Thema Geräuschkomfort von seiner zurückhaltenden Seite. Selbst bei hohem Autobahntempo bleibt es im Innenraum angenehm leise. Weder Wind- noch Abrollgeräusche dringen störend durch, was längere Fahrten spürbar entspannter macht. Auch bei Tempo 170 ist ein normales Gespräch problemlos möglich, ohne dass man die Stimme heben müsste. Das dezente Rauschen bleibt konstant im Hintergrund und trägt zu einem insgesamt sehr gelassenen Fahrerlebnis bei - ganz gleich, wie schnell man unterwegs ist.
Der Spurhalteassistent arbeitet präzise, auch bei schlechter Sicht, Spiegelungen oder Gischt. Leider erkennt er keine Rettungsgasse und zieht das Auto hart in die Mitte. Glücklicherweise lässt sich das System per langem Druck auf die Lenkradtaste abschalten - der Abstandstempomat bleibt dabei aktiv.
Die adaptive Geschwindigkeitsregelung mit Navi-Anbindung funktioniert ordentlich, genau wie der Autobahnassistent mit automatischem Spurwechsel per Blinker. Der arbeitet aber extrem langsam und dürfte so kaum genutzt werden. Die kapazitive Handerkennung im Lenkrad ist deutlich angenehmer als das übliche Gerüttel.
Weniger angenehm: der Aufmerksamkeitsassistent, der in sehr kurzen Intervallen Pausen empfiehlt, sich aber ums Verrecken nirgendwo abschalten lässt. Die Totwinkelkameras blenden beim Blinken ein Livebild ins digitale Kombiinstrument ein - in der Stadt sehr praktisch, obwohl die Sicht auf die INstrumententafel bei eingeschlagenem Lenkrad verdeckt ist. Auf der Autobahn ist das System bei Regen aber nutzlos, da sich Wasser auf den Kameralinsen sammelt.
Immer ein interessanter Punkt ist der vorgeschriebene Tempowarner, beziehungsweise dessen Deaktivierung. Beim Kia geht das extrem schnell per langem Druck auf die Lenkradtaste. Vorbildlich - zumindest aus der Sicht des genervten Users.
Seit dem Facelift kann der EV6 nun auch automatisch einparken, und das von außen gesteuert. Vor allem bei sehr engen Lücken oder Garagen ist das ein Segen, solange man das Auto direkt davor abstellen kann. Um die Ecke kann der Kia nämlich noch nicht selbst einparken, zumindest nicht von außen.
Der Kia EV6 GT ist mit 585 PS und einem Preis ab 69.990 Euro ein echtes Kraftpaket mit Alltagskompetenz. Doch das Segment der elektrischen Sportlimousinen bis etwa 85.000 Euro ist inzwischen prominent besetzt. Allen voran: das Tesla Model 3 Performance. Frisch überarbeitet, bringt es nun 460 PS auf die Straße, knackt den Sprint auf Tempo 100 in 3,1 Sekunden und bleibt mit 63.990 Euro preislich attraktiv.
Der BMW i4 M50 tritt mit 544 PS, Allradantrieb und bis zu 510 Kilometern Reichweite an. Er kostet mindestens 72.900 Euro und spricht vor allem Freunde klassisch-straffer Fahrdynamik an. Dafür ist der Laderaum limousinentypisch eingeschränkt, die Ladeleistung mit 205 kW solide, aber nicht überragend.
Hyundai liefert mit dem Ioniq 5 N den konzerneigenen Konter zum EV6 GT. Er basiert auf der gleichen Plattform, treibt den Sportgedanken aber noch kompromissloser voran. Mit 650 PS, 3,4 Sekunden auf 100 und einer besonders aggressiven Abstimmung inklusive simuliertem Doppelkupplungsgetriebe ist er fahrdynamisch kaum zu schlagen. Die Preise starten bei 74.900 Euro, die Ladeleistung ist mit bis zu 350 kW ebenfalls top.
Polestar bietet mit dem überarbeiteten Polestar 2 Long Range Dual Motor Performance ein weiteres potentes Paket. Für 67.990 Euro bekommt man 476 PS, 0-100 km/h in 4,2 Sekunden und bis zu 568 Kilometer WLTP-Reichweite. Der Fokus liegt hier eher auf Langstreckenkomfort und stilvollem Understatement.
Der Kia EV6 GT ist ein faszinierender Elektro-Gran Turismo: brutal schnell, komfortabel auf langen Strecken, clever im Innenraum, ambitioniert bei der Ladetechnik. Gleichzeitig aber mit Schwächen, die man nicht ignorieren kann. Vor allem die Lenkung verhagelt einem schnell den Spaß am eigentlich sehr unterhaltsamen Fahrverhalten und der hohe Verbrauch lässt einen die immensen Leistungsreserven eher selten ausreizen.