Der W210 lief lange genug unter dem Radar. Gerade das AMG-V8-Topmodell ist wundervoll und (noch) bezahlbar
Genügend Gründe, eine Performance-Limousine mit fünf Liter großem V8 unter der besternten Haube zu bewegen, gibt es eigentlich immer. Aber wenn der Protagonist auch noch vor ziemlich genau 30 Jahren das Licht der Welt erblickte, gewinnt die ganze Nummer doch spürbar an Glanz und Gloria.
Wir schreiben das Jahr 1995. In Deutschland sorgt der erste Castor-Transport nach Gorleben auch weit vor Greta, Luisa und Klima-Shakira für Massenproteste. Die EU-Staats- und Regierungschefs einigen sich auf den Euro als gemeinsame Währung (und den 1. Januar 1999 als Einführungsdatum). Das Bosman-Urteil verändert den Profi-Fußball für immer. Christo und Jeanne-Claude verhüllen den Reichstag. Vangelis, die Rednex und Scatman John dominieren die Charts und Borussia Dortmund wird nach 32 Jahren wieder deutscher Meister. Außerdem debütiert am 14. September der Mercedes E 50 AMG auf der Frankfurter IAA.
Das alles übrigens herrlich unprätentiös in Begleitung von gerade mal vier Seiten Pressemeldung (heute wären es eher 40). Laut selbiger vereinen sich im neuen Topmodell "Komfort und Dynamik in idealer Kombination". Nach dem C 36 von 1993 ist der E 50 erst das zweite gemeinsame Fahrzeugentwicklungsprojekt von Mercedes-Benz und AMG, nachdem man 1990 einen Kooperationsvertrag unterschrieben hat. Erst 1998 übernimmt die Daimler AG 51 Prozent der Anteile von Hans Werner Aufrecht und das Unternehmen wird in Mercedes-AMG GmbH umbenannt.
"Sportlich ambitionierte Autofahrer, die das Platzangebot, den Komfort und die Sicherheit einer Mercedes-Limousine mit der Fahrdynamik und den Fahrleistungen eines Sportwagens kombinieren möchten", freuen sich ganz besonders über den umfangreich aufgebrezelten M119-Achtzylinder. Der für viele beste Mercedes-V8 aller Zeiten wird zwischen 1989 und 1999 in unfassbar vielen gehobenen Daimlern verbaut. Unter anderem auch im zivileren kleinen Bruder E 420, aber im Falle des E 50 basiert er auf dem Motor des S 500 (Baureihe W140).
Im "Panzer" leistet das Aggregat mit 4.973 ccm Hubraum (passender Code: M119 E 50) zu dieser Zeit 320 PS und 470 Nm. Um die Leistung des Vierventilers auf ein AMG-würdiges Niveau zu heben, überarbeitet man den Zylinderkopf "gründlich" und sorgt mit einem zweiflutigen Ansaugsystem sowie neukonstruierten Nockenwellen, die längere Ventilöffnungszeiten ermöglichen, für eine bessere Beatmung des V8. Ebenfalls neu ist die Auspuffanlage, die Rohre mit größerem Querschnitt und Mittelschalldämpfer/Kats von den hauseigenen Zwölfzylinder-Modellen nutzt.
Am Ende bringt es der E 50 AMG auf 347 PS bei 5.750 U/min und ein maximales Drehmoment von 480 Nm, das zwischen 3.750 und 4.250 U/min anliegt. Verbrauch im Drittelmix: 11,6 Liter.
Das Fahrwerk mit Doppel-Querlenkern vorne und Raumlenker-Achse hinten spendiert der zweite Achtzylinder der noch taufrischen Baureihe W210. Anders als beim E 420 kommen im E 50 AMG jedoch straffer abgestimmte Stoßdämpfer sowie leicht modifizierte Federn und Stabilisatoren zum Einsatz. Das muss - zusammen mit etwas breiteren 18-Zoll-Rädern - für die zu dieser Zeit doch noch recht gemütlich ausgelegten Performance-Ansprüche reichen.
Deutlich dicker trägt das Marketing dafür bei den Bremsen auf. Schließlich wird die 1.750 Kilo schwere Power-Limo von "Hochleistungstechnik aus dem Motorsport" in Zaum gehalten. Vorne setzt man auf eine neuentwickelte Zwei-Kolben-Faustsattelbremse mit innenbelüfteten 334-mm-Scheiben, hinten kommen die Anker aus dem SL 600 mit 300-mm-Scheiben zum Einsatz.
Interessant ist auch das Preisschild: Für die 148.350 D-Mark, die für den E 50 aufgerufen werden, kriegt man fast einen E 420 und das Basismodell E 200.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich - und ich glaube, da bin ich nicht allein - ging und geht der W210 neben all den 124ern, 126ern, R129-SL, und wie sie nicht sonst noch alle heißen im schier unendlichen Mercedes-Klassik-Kosmos, vollkommen unter. Das mag am miserablen Rost-Ruf liegen oder daran, dass ein durchgegammelter E 220 Diesel, der im Farbton "20-Jahre-nicht-gewaschen-Weiß" auf dem örtlichen Lidl-Parkplatz um Gnade winselt, wirklich kein sehr schöner Anblick ist.
Doch wie ich da so vor ein paar Wochen an einem Mittwoch morgen durchs Foyer des Mercedes-Benz Museums schlurfe und meine noch recht müden Augen plötzlich das Testobjekt des heutigen Tages erblicken, da ist es aber ganz ganz schnell geschehen um mich und der Wagner ist augenblicklich hellwach. Meine Herren, was sieht er gut aus, was ist er fabelhaft gealtert, dieser E 50 AMG, Erstzulassung 1996, im klassischen Brillantsilber, der trotz 110.000 Kilometern auf der Uhr locker für einen Jahreswagen durchgehen würde.
Dass man motorisierungsunabhängig mit dem nötigen Kleingeld einfach ein AMG-Paket an seinen Benz packen konnte, war Mitte der 90er noch nicht üblich. Umso mehr Strahlkraft entwickeln die speziellen Stoßfänger (vorne mit integrierten Nebelscheinwerfern) und Seitenschweller am Topmodell. Herrlich zurückhaltend: Statt AMG-Badge auf der Seitenleiste tut es der Schriftzug der sportlichsten Serienausstattung "Avantgarde".
Was zudem überrascht: Der E 50 steht serienmäßig brutal satt auf dem Asphalt. Die 8 und 9 Zoll breiten AMG-18-Zöller (polierte Felgenbetten!!! *schmacht*) mit den 235/40er und 265/35er Pneus machen sich im Radhaus breit wie der deutsche Pauschaltourist am Hotelpool. Und jetzt mal ganz unter uns: War das Ding schon immer so tief?
Jedenfalls fasziniert der Big Dog unter den 210ern mit einer ganz eigenen Präsenz: Was vor gut 30 Jahren dicke Hose war, wirkt heute subtil, ohne Firlefanz, unheimlich elegant und ja, zeitlos.
Gleiches kann man gewiss auch über den Innenraum sagen. Wobei man seine "Früher war alles besser"-Erkundungstour definitiv nicht mit einem Blick aufs Lenkrad beginnen sollte. Denn anders als das klassische Volant aus dieser Zeit, ist der große "Sport"-Rundling im AMG-Modell nicht unbedingt ein Ausbund an Ästhetik (um es extrem euphemistisch auszudrücken).
Davon abgesehen rinnt dem Anfang-40er-Motor1-Schreiberling beim Anblick der E 50-Wohnstube allerdings ein wohlig warmer Schauer der Verzückung den Rücken hinunter. Was daran liegen könnte, dass sein alter Herr Ende der 90er ebenfalls einen 210er mit Avantgarde-Ausstattung und dem bis heute schwer zu schlagenden Holz-Dekor in Vogelaugenahorn besaß. Wenn auch nur als popeligen 230er-Vierzylinder mit vollkommen unangemessener (und von Vater Wagner stärkstens verschmähter) 5-Gang-Handschaltung.
Heute undenkbar: Bis auf das etwas stärker ausgeformte Ledergestühl gleicht das E 50-Interieur weitestgehend dem seiner schwächeren Baureihengeschwister. In diesem Fall sehen Sie übrigens überaus angenehmes Leder Nappa Exclusiv im Farbton Graphit. Gerne hätte ich Ihnen eine der peppigen Zweifarb-Ausstattungen jener Zeit vorgeführt (etwa ein schickes Schwarz-Lila), aber auch mit monoton gefärbter Tierhaut gibt es hier drin wenig zu meckern. Vor allem, weil selbige im Vergleich zur Gegenwart schön üppig verlegt ist.
Die Verarbeitungsqualität wirkt selbst nach 29 Jahren noch sehr solide. Wenn man das von heutigen E-Klassen im Jahr 2054 auch noch sagt, fresse ich einen Besen. Was die Materialien angeht, verklärt man ja gerne mal, wenn es um die gute alte Zeit geht und tatsächlich ist auch hier manches recht pragmatisch gelöst. Aber klapperdürres Hartplastik suchte man in den 90ern zum Glück noch vergebens.
Sitzposition? Hinten reisetauglich, vorne saugemütlich. Wenn auch etwas hoch und etwas mehr Oberschenkelauflage könnte auch nicht schaden. Aber Sie sehen schon, endlich bewegt sich was. Der Berichterstatter sitzt und drückt den Start... nein, das tut er natürlich nicht. Er dreht noch ganz klassisch den Zündschlüssel und hört, dass er erstaunlich wenig hört.
Das Klangbild des mächtigen V8 zeigt sich ähnlich zurückhaltend und geschmackvoll wie die zwei verchromten Endröhrchen, aus denen es entfleucht. Vermutlich haben wir es hier mit dem leisesten AMG zu tun, der nicht der aktuelle C 63 ist. Allerdings braucht er auch kein akustisches Halbstarkentum, um zu zeigen, dass er recht mächtige Lungen hat. Man merkt es am jovialen Gurgeln und an der wohlig-warmen V8-Massage, die sanft über Lenkrad, Pedale und Co hineinvibriert in den Körper.
Beim beherzten Tritt ins rechte Pedal fühlt man schnell: mit dem gesichtsdeformierenden Vortrieb aktueller Power-Limousinen hat das hier eher wenig zu tun. Der M119 ist ein Sauger reinsten Wassers. Die Gasannahme ist großartig. 2,3,4 tausend Touren, relativ Schnuppe, man befiehlt Vortrieb und er reagiert umgehend. Nach heutigen Maßstäben fast schon gemütlich, aber mit einer sehr linearen und einfach schönen Leistungsentfaltung. Man muss aber natürlich schon noch ein bisschen arbeiten, wenn man schnell sein will, er dreht auch willig aus, wobei der rote Bereich bereit bei 6.000 U/min beginnt und viel mehr geht dann auch nicht.
Nichtdestotrotz: Nach den angegebenen 6,2 Sekunden von 0-100 km/h fühlt sich das in jedem Fall an. Die Kollegen der Auto, Motor und Sport maßen ja im Test im September 1996 sogar 5,8 Sekunden.
Total überrascht hat mich tatsächlich das Kurvenverhalten. Zugegebenermaßen habe ich nicht all zu viel erwartet, aber da strafte er mich schon ordentlich Lügen, der große, reife Souverän. Mit dem dünnen Lenkrad macht das also ohnehin schon mehr Spaß als mit den dicken klumpigen Dingern von heute. Man muss natürlich ein bisschen kurbeln, aber nicht so sehr, wie ich mir das tatsächlich bei einem Auto von Mitte der Neunziger vorgestellt habe.
Wir sind hier zweifelsfrei weit entfernt von einer aggressiv zubeißenden Vorderachse, wie sie heute selbst Zweitonner gefühlt zu Supersportwagen mutieren lässt, aber das Einlenkverhalten ist wirklich okay. Das hier sind nicht mehr die 80er, der E 50 fährt sich wie ein modernes Auto.
Und er hält dann auch die Spur und beißt sich sehr vernünftig fest. Einen großen Anteil am überraschend hohen Grip-Niveau - da sollten wir nichts schönreden - haben sicher die neuen Continental Sport Contact 7, welche 2024 auf "meinen" E 50 aufgezogen wurden. Aber Ehre, wem Ehre gebürt - trotz der genetischen Weichheit und Behaglichkeit im Fahrwerk und den Bewegungen im Aufbau kann man dieses Auto durchaus zügig bewegen. Nicht hochdynamisch, aber zügig.
Für die ganz hohe Schule des Fahrspaßes mangelt es dem 50er letztlich ausgerechnet an einer Eigenschaft, die AMG-Fahrzeugen in den Folgejahren zu ihrem einzigartigen Ruf verholfen hat. Der feine Herr driftet nicht. Nicht die Bohne. ESP war im 210er erst ab 1999 Serie und S-OP 1418 hat keins. Dafür agiert seine Anti-Schlupf-Regelung gnadenloser als die Kiss-Cam bei einem Coldplay-Konzert.
Wer auch nur ansatzweise versucht, den Hintern rutschen zu lassen, bekommt von der Bremse dermaßen eine vor den Latz geknallt. Dann macht es "klonk" und das Auto steht wieder schnurgerade. Zumindest in meinem Fall brachte auch der ASR-Aus-Knopf keine Linderung. Ob es eine "Vertrau keinem Journalisten-Heini"-Maßnahme der Mercedes Classic war, gilt es noch herauszufinden.
Weitere Eindrücke: Die Bremse ist wahnsinnig weich, aber wer sie mit Verve tritt, erzielt dann auch Ergebnisse. Zudem zeigte sich der 5-Gang-Automat weit weniger prähistorisch als vermutet. Zusammengefasst beherrscht der E 50 AMG eine Art majestätischen Flow, wie man das in der Performance- und Rekord-versessenen Jetzt-Zeit eigentlich nicht mehr findet.
Und eine weitere Lektion dieses großartigen Fahrtags: Der W210 verbindet das unerschütterliche Mercedes unserer Jugend, welches viele derzeit so vermissen, mit den meisten Annehmlichkeiten und Fahreigenschaften heutiger Modelle. Eine Baureihe, die neu entdeckt werden will.
Eine vernünftige Ersatzteile-Versorgung ist beim W210 gesichert, sagt Mercedes. 15 Jahre nach Einstellung der Baureihe (was beim W210 definitiv gegeben ist) wird selbige an Mercedes Classic überführt. Jedes Jahr gelangen so mehr als 25.000 neue Teile ins Sortiment.
Beim 210er sind 4.500 Teile im Bestand, unter anderem viele Aggregatkomponenten für Motor, Getriebe und Achsen, aber auch zahlreiche Karosserieteile und ein großes Programm an Verschleißteilen. Die meisten Mercedes-Benz Classic Original-Teile werden binnen 24 Stunden geliefert.
Und ein großer Vorteil daran ist: Sie werden beim Entdecken schnell entdecken, dass die Baureihe aktuell noch sehr gut ins Budget passt. Selbst das AMG-Topmodell. Und überlegen Sie mal, davon wurden zwischen Januar 1996 und September 1997 gerade mal 2.960 Stück gebaut. Entsprechend überschaubar ist das Angebot in den einschlägigen Gebrauchtwagenbörsen.
Für um die 15.000 Euro gibt es kilometerstarke Exemplare, die sicher Arbeit benötigen, 25-30.000 Euro kaufen ein sehr anständiges Auto und für 50.000 Euro erhalten Sie Bestzustand mit unter 50.000 Kilometern. Ein T-Modell gab es vom E 50 AMG übrigens nicht. Das kam erst beim Nachfolger E 55. Zwischen 1998 und 1999 wurden genau 1.723 Kombis gefertigt.