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Volkswagen Tiguan R (2020) im Test: Sinnlos , aber gut?

Das Bestseller-SUV kriegt tatsächlich noch die R-Behandlung. Kann das gut gehen?

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Was ist das?

Was ist da eigentlich gerade in Wolfsburg los? Auf der einen Seite hat der Aufsichtsrat Konzernchef Diess gerade auf Jahre hinaus den Elektro-Freibrief erteilt, auf der anderen Seite bombardiert man uns mit einer nie dagewesenen Flut an leistungsstarken R-Modellen. 

Bis vor Kurzem gab es einen Golf R und einen Golf R Variant, das war's. Aber weil es für die meisten Menschen inzwischen unmöglich geworden ist, ein sinnvolles Leben ohne SUV zu führen, gibt es nun auch einen Touareg R, einen T-Roc R und eben diesen Tiguan R. Ach ja, und vergessen Sie mir bitte nicht die bildschönen Arteon R und Arteon R Shooting Brake. Die kommen bald, sind auch groß, aber viel cooler. 

Dafür kann der arme Tiguan R natürlich nichts. Und seien wir ehrlich - die Sinnfrage stellt sich hier ziemlich unweigerlich. Der König der Familien-SUVs ... der, der mit Sport aber mal so überhaupt nichts am Hut hat - und davon eine Performance-Variante? Wozu?

Obendrein sieht er von außen noch immer sehr tiguanig und eher weniger nach einem wilden Performance-Gerät aus. Aber wir wissen, wie das bei R läuft, die Herrschaften beabsichtigen das durchaus so. Falls Sie sich nicht ganz sicher sind, ob Sie an der nächsten Ampel wirklich mitziehen sollen, suchen Sie einfach nach vier Auspuffrohren und dickeren Bremsen hinter den zugegebenermaßen wunderschönen (optionalen) 21-Zöllern.

Was die übrige Spec-List betrifft, braucht sich der "Riguan", wie ihn der Kollege Hohmeyer liebevoll taufte, aber gewiss nicht zu verstecken. Er teilt sich den Antriebsstrang mit besagten Arteons und dem neuen Golf 8 R. Das bedeutet: Die neueste Evo4-Ausbaustufe des bekannten EA888-2,0-Liter-Turbo-Benziners (320 PS und 420 Nm), 7-Gang-Doppelkupplung und ein deutlich spaßigeres Allrad-Setup.

Das eher fade Haldex-System ist Geschichte. In die Bresche springt ein neues Torque-Vectoring-Differenzial, also ein Hinterachsgetriebe mit zwei Lamellenkupplungen, das die Kräfte nicht nur zwischen vorne und hinten, sondern nun auch zwischen rechtem und linkem Hinterrad verteilen kann. 

Der Tiguan beobachtet Lenkwinkel, Gaspedalstellung, Gierrate, aktuelle Geschwindigkeit sowie den gewählten Fahrmodus und entscheidet dann, wie viel Power er an jedes Hinterrad schickt. Bis zu 100 Prozent der heckwärts geleiteten Kraft kann an eines der Räder gehen. Zudem ist ein adaptives Sportfahrwerk mit 10 mm Tieferlegung Serie.

Zahlt sich das beim Fahren wirklich aus?

Ich behaupte, ja. Ganz erheblich sogar. Der Tiguan macht auf der Straße überraschend gute Dinge. Für ein SUV wohlgemerkt. Und der normale Tiguan, ich erwähnte es bereits, ist selbst für ein SUV ziemlich SUVig. Schauen Sie sich nur mal den vergleichsweise hohen Aufbau an. Oder die Sitzposition, bei der man sich manchmal fragt, ob man nicht einen LKW-Führerschein braucht. 

"In schneller gefahrenen Kurven kann man wirklich spüren, wie das Auto sein kurvenäußeres Hinterrad mit Kraft bewirft, damit es williger eindreht und strikt auf Kurs bleibt."

Aber das Fahrverhalten des Tiguan R ist wirklich stimmig. Die Lenkung arbeitet progressiv, was sie bei niedrigen Geschwindigkeiten sehr leicht macht. Je schneller man fährt, desto mehr Gewicht bekommt sie. Oft ist das schrecklich, hier aber nicht. Die Abstimmung wirkt erfreulich natürlich.

Zudem funktioniert das Torque Vectoring überaus effektiv. Das bedeutet, dass das Auto schön direkt einlenkt und sich erfolgreich gegen nerviges Untersteuern zur Wehr setzt. In schneller gefahrenen Kurven kann man wirklich spüren, wie das Auto sein kurvenäußeres Hinterrad mit Kraft bewirft, damit es williger eindreht und strikt auf Kurs bleibt.

Wer mit ordentlich Tempoüberschuss in die Biegung reinknallt und kurz das Gas lupft, wird ebenfalls positiv überrascht sein (DAS Kaufargument schlechthin für ein Kompakt-SUV, ich weiß). Frühere VWs hätten sich einfach unmotiviert zusammengestaucht, genervt die Augen gerollt und wären schnurgerade weitergefahren.

Mit dem neuen System aber reagiert das Auto (ja, selbst der Tiguan) wesentlich sportlicher und lebendiger, verhält sich eher übersteuernd, fordert auch mal ein leichtes Gegenlenken. Keine Sorge, der R ist weit weg von einem hemmungslosen Drift-Halodri, aber er kreiert ein Gefühl von Dynamik, das so mit dem alten System sicher nicht möglich gewesen wäre. 

Ganz nebenbei lässt seine Darbietung einiges für den kommenden Golf R erwarten, der ja - anders als der Tiguan - obendrein über einen Drift-Modus verfügen wird. Und in jedem Fall hat uns der Sport-Tiguan deutlich besser gefallen als sein kleiner Bruder T-Roc R, der vor einem knappen Jahr zum Test antrat. Demgegenüber hat er nämlich einen weiteren, ganz entscheidenden Vorteil.

Volkswagen war glücklicherweise so schlau, dem Tiguan R einen zusätzlichen Alu-Hilfsrahmen zu spendieren, um dessen Steifigkeit zu erhöhen. Das hilft einerseits, Wank- und Rollbewegungen zu reduzieren, was hier auch ziemlich gut funktioniert (der normale Tiguan ist ja doch eher der gemütliche Typ). Andererseits bedeutet mehr Körperspannung im Chassis, dass man das Fahrwerk nicht abstimmen muss wie einen auf Billardkugeln fahrenden Gartenstuhl. Selbst auf den 21-Zöllern mit dem straffsten Dämpfer-Setting federt dieser R noch angenehm. Es ist kein Vergleich zum nervös-hoppeligen T-Roc R.

Klingt gut, kann der Antrieb mithalten?

Ja und nein. Grundsätzlich ist gegen den sportlichen Konzern-Vierzylinder ja wirklich wenig auszusetzen. Außer, dass er im Ansprechverhalten traditionell eher zu den gemütlichen Vertretern gehört. In diesem Fall ist dieses Phänomen leider besonders stark ausgeprägt. Selbst im Sport-Modus kommt der R beim Anfahren gefühlt überhaupt nicht aus dem Quark. Schwer zu sagen, ob es an der Abgasführung oder an der Abstimmung mit dem Getriebe liegt, aber die Gasannahme ist in allem außer "Race" tatsächlich relativ lausig.

Wenn er mal auf Touren ist oder man einfach selbst zu den Schaltpaddles greift, gibt sich der Motor aber keine Blöße mehr, zieht beherzt und ausgeglichen kräftig und ist grundsätzlich einfach echt fix. Er bleibt aber wie gewohnt ein eher untheatralischer Vertreter seiner Zunft, sprich: Die Zahlen auf dem Tacho werden viel schneller größer als man es hinter dem Lenkrad fühlt. 

Was ist das für ein riesiger Auspuff?

VW arbeitet ja was seine R-Modelle betrifft schon länger mit den Abgas-Gurus von Akrapovic zusammen. Für einen horrenden Aufpreis (3.700 Euro) können Sie sich auch hier einen speziellen Endschalldämpfer mit Titan-Endrohren sichern. Er ist klappengesteuert und klingt von außen - im Rahmen dessen, was heutzutage noch erlaubt ist - recht ordentlich. 

Der Effekt verpufft aber leider weitestgehend, weil einmal mehr Unmengen an Fake-Sound in die Kabine gepumpt werden. Im Sport-Modus ist es bereits ein wenig albern, in Race wird es nur noch absurd. Natürlich kann man sich den Individual-Modus so konfigurieren, dass man maximale Performance mit der angenehmen Absenz computergenerierter V8-Imitation paart. Das Problem ist nur: Der voreingestellte Modus nach jedem Start ist "Sport". Bedeutet: Nach jedem Einsteigen geht der Klang-Irrsinn von vorne los. Frustrierend.

Wie ist er innen?

Auch hier herrscht Zwiespältigkeit. Das neue, laut VW extra für den Tiguan R angefertigte Sportgestühl ist herausragend. Viel Unterstützung an den richtigen Stellen und trotzdem extrem komfortabel. Dafür hat man seit dem Facelift des Autos nun all diese unsäglichen, berührungsempfindlichen Bedienflächen am Hals. Einmal mehr erweist sich die vermeintlich modernere Lösung als Rückschritt bei der Benutzerfreundlichkeit. 

Beispiel Lenkrad. Das neue Sport-Volant fasst sich sehr gut an, sieht gut aus und hat die richtige Größe, aber warum ist es nun mit all diesen Touchflächen zugekleistert? Ständig drückt man daneben.

Gleiches gilt für die Klimabedienung. Schön, dass VW sie nicht in den 9,2-Zoll-Infotainment-Screen integriert hat, allerdings sitzt das Panel recht tief und man erhält beim Drücken der "Knöpfe" kein haptisches Feedback. Wenn Sie also wissen wollen, ob Sie Ihren Tiguan gerade versehentlich zum Eisschrank gemacht haben oder ob die (überraschend kräftige) Sitzheizung Ihnen in Kürze den Hintern flambieren wird, müssen Sie Ihre Augen relativ lange von der Straße nehmen. Ein Hoch auf den Fortschritt.

Fazit: 7/10

Das soll's dann aber auch gewesen sein mit dem Gemeckere, letztlich fährt hier nämlich ein überraschend gutes Gesamtpaket. Dass der Tiguan R ein sehr kompetentes, schnelles und geschliffenes Gerät sein würde, war von vornherein zu erwarten. Dass er durch das neue Allradsystem und die sinnvolle (sprich: nicht zu harte) Fahrwerksabstimmung so fahraktiv und unterhaltsam daherkommt, ist indes eine faustdicke Überraschung. 

Rechnen Sie halt mit einem relativ stattlichen Verbrauch (je nach Fahrweise zwischen 9,5 und 13 Liter) und einem relativ großen Preisschild. Unser nahezu vollausgestatteter Testwagen brachte es auf über 69.000 Euro. 

Seine Käufer wird dieses routinierte und doch unterhaltsam Sport-SUV dennoch finden. Und sei es nur, weil derzeit weit und breit keine Konkurrenz in Sicht ist.

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