Was taugt die 245 kW starke Basismotorisierung mit bis zu 651 km Reichweite?
Mit dem ES90 bringt Volvo seine erste Elektrolimousine auf den Markt. Das exakt 5,00 Meter lange Modell mit 800-Volt-Technik ist bereits seit März konfigurierbar, die Auslieferungen sollen noch 2025 starten. In der Gegend um Nizza testeten wir nun die Basismotorisierung mit 245-kW-Heckantrieb und 88-kWh-Batterie, die für WLTP-Reichweiten von bis zu 651 km gut ist.
Der Neuling gehört mit einem Basispreis von knapp 72.000 Euro unzweifelhaft ins Premium-Segment, und zwar in die obere Mittelklasse. Hier die wichtigsten Daten der getesteten Einstiegsmotorisierung:
Volvo ES90 Single Motor Extended Range | |
Antrieb | RWD 245 kW, 480 Nm |
0-100 km/h / Höchstgeschw. | 6,6 Sek. / 180 km/h |
WLTP-Verbrauch | 15,9-18,5 kWh |
Akku netto | 88 kWh |
WLTP-Reichweite | 554-651 km |
Max. Ladeleistung AC/DC | 11 / 310 kW |
DC-Ladedauer (10-80 %) | 22 min |
Basispreis (Ausstattung) | 71.990 Euro (Core) |
Mit fünf Meter Länge ist der Volvo ES90 eine große Limousine. Der Radstand ist mit 3,10 m noch gewaltiger als beim Schwestermodell EX90, das zwar ein paar Zentimeter länger ist, aber beim Achsabstand unter drei Metern bleibt. Die Höhe des ES90 ist mit 1,54 m rund zehn Zentimeter größer als beim inzwischen ausgelaufenen Volvo S90. Das ist weniger der Batterie im Boden zuzuschreiben, als der hohen Bodenfreiheit von 18 bis 19 cm.
Die hohe Bodenfreiheit soll das Auto offenbar ein wenig näher an ein SUV heranrücken: Man kann leichter ein- und aussteigen und durch die hohe Sitzposition hat die Person am Steuer einen besseren Überblick. Die Sicht via Innenspiegel nach hinten wird allerdings durch das kleine Heckfenster eingeschränkt; zudem gibt es keinen Heckscheibenwischer.
Wie bei allen seinen Elektroautos verzichtet Volvo auch hier auf einen Grill. Mit dem EX90 gemein hat der Wagen den Lidar-Sensor auf dem Dach und hinten die bandförmigen Bremslichter, die sich links und rechts der Heckscheibe nach oben ziehen. Dazu kommen C-förmige Rückleuchten weiter unten. Alles in allem erinnert der Volvo ES90 von der Karosserieform her ein wenig an den kleineren Polestar 2.
Im Interieur verzichtet Volvo größtenteils auf physische Bedienelemente. So müssen die Außenspiegel und die Position des Lenkrads per Touchscreen und Lenkrad-Tasten eingestellt werden. Es gibt allerdings ein Röllchen aus Kristallglas für die Lautstärke und zwei Pfeiltasten, mit denen man zum nächsten Audio-Track springen kann.
Die Klimaanlage und die Transparenz des Glasdachs werden per Touchscreen eingestellt; sogar das Handschuhfach wird so geöffnet. All das lässt das Cockpit sauber und aufgeräumt wirken, aber es entspricht eher chinesischen als europäischen Vorlieben und ist nicht gerade praktisch. Materialien und Verarbeitung sind jedoch über jeden Zweifel erhaben. Im Testwagen gab es schicke, natürlich wirkende Holzleisten, kombiniert mit Alu-Akzenten und helle Sitze. Die erwähnte Kristallglas-Rolle und die aus massivem Metall bestehenden Pfeiltasten daneben machen wirklich was her.
Die Displaylandschaft besteht aus einem 9-Zoll-Instrumentendisplay mit konfigurierbarer Ansicht sowie einem senkrecht montierten 14,5-Zoll-Touchscreen. Ab der mittleren Ausstattung Plus kommt auch noch ein Head-up-Display hinzu.
Der Touchscreen zeigt oben die Navigationskarte, darunter ein paar Widgets für die Medienbedienung und dergleichen. Dann folgt eine kontextabhängige Icon-Leiste, mit der beim Fahren das One-Pedal-Driving aktiviert und Fahrwerkseinstellungen gemacht werden können, und schließlich eine stets gleichbleibende Leiste mit Klimaeinstellungen. Als Betriebssystem wird Android Auto verwendet, sodass Google Maps und Google Assistant zur Verfügung stehen. Sah man bei Volvo früher auf ein graugrüne Navigationskarten, so blickt man nun auf prächtige Satellitenbilder.
Die Sprachbedienung ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: Das System setzte zwar anstandslos die Innenraum-Temperatur hoch oder herunter, aber auf die Frage, wie weit es bis München sei, wurde sofort die laufende Navigation gestoppt und eine Route in die bayrische Landeshauptstadt geplant.
Die Vordersitze bieten guten Seitenhalt, ohne unbequem zu sein. Im Fond fiel mir zunächst auf, dass man deutlich höher sitzt als vorne. Dennoch blieb genug Kopfffreiheit. Durch den enormen Radstand von 3,10 Meter bleibt auch viel Platz vor den Knien. Hier merkt man, dass China der wichtigste Markt für den ES90 ist, denn im Reich der Mitte dürfte eine Oberklasselimousine wie der ES90 wohl vor allem als Chauffeurslimousine genutzt werden. Wenn der Wagen für Europa konstruiert wäre, wo hinten wohl meist die Kinder sitzen, hätte man mehr Wert auf den Kofferraum gelegt.
Immerhin hat der ES90 eine große Heckklappe wie ein Audi A6 e-tron oder der VW ID.7. Das vereinfacht den Zugang zum Kofferraum. Zudem lassen sich die Rücksitze im Verhältnis 40:20:40 umklappen - ein Plus in Sachen Flexiblität. Das Stauabteil ist aber wegen der hinten abfallenden Karosserie nicht sehr hoch.
So passen nur 424 bis 1.427 Liter Gepäck hinein; dazu kommt noch ein kleiner Frunk. Zum Vergleich: Beim Audi A6 e-tron Sportback sind es 502 bis 1.330 Liter, beim VW ID.7 aber üppige 532-1.586 Liter. Während der Audi und der VW auch als Kombi angeboten werden, ist dieser bei Volvo nicht eingeplant. Der Markt dafür wäre zu klein, ist herauszuhören, eigentlich fragen nur die Deutschen danach, und zwar vermutlich, weil sie auf der Autobahn so schnell fahren, dass der Windwiderstand wirklich wichtig ist. Selbst im einstigen Kombiland Schweden werden inzwischen SUVs bevorzugt.
Im ES90 werden die gleichen Antriebe und Akkus eingesetzt wie beim neuen EX90 mit 800 Volt: Die Basisversion hat als einzige einen 88-kWh-Akku und Hinterradantrieb, während bei den Allradlern Twin Motor AWD und der Twin Motor Performance eine 102-kWh-Batterie eingebaut wird. Die Palette ist etwas ungewöhnlich; bei drei Motorisierungen und zwei Akkugrößen werden meist zwei Hecktriebler und ein Allradler angeboten; dabei unterscheiden sich die Hecktriebler dann durch die Batteriegröße.
Beim ES90 werden dagegen zwei Allradler angeboten und der Hecktriebler ist nur mit kleiner Batterie verfügbar, weswegen er nicht die reichweitenstärkste Version ist. Mit 651 WLTP-Kilometern liegt der Testwagen nicht schlecht, aber für unsere Top-Ten-Liste genügt das nicht mehr. Aufgeladen wird mit bis zu 310 kW; damit soll der Standard-Ladevorgang 22 Minuten dauern. Dus der Batteriekapazität und der Ladedauer errechnet sich eine Ladegeschwindigkeit von 88 kWh x 0,7/22 min = 2,8 kWh/min. Für ein 800-Volt-Auto ein ordentlicher, aber kein sehr guter Wert.
In der Praxis wichtiger ist das Reichweite-Nachladen. Hier ergibt sich ein Wert von 651 km x 0,7/22 min = 20,7 km/min. Das heißt, im SoC-Bereich von 10 bis 80 % kann man pro Minute Strom für etwa 21 km nachladen. Da können 400-Volt-Modelle nicht mithalten, aber es gibt deutlich bessere 800-Volt-Konkurrenten.
Erweiterte technische Daten der 3 Motorisierungen als PDF zum DownloadAn 400-Volt-Säulen wie etwa den Tesla-Superchargern nutzt der ES90 den Inverter der elektrischen Antriebsachse, um die Spannung auf 800 Volt zu heben - ähnlich wie es Kia beim EV9 macht. Eine elegante Lösung, denn so braucht man keinen separaten Aufwärtswandler (Booster) einzubauen, was Gewicht und Kosten spart.
Am Supercharger, der 400-Volt-Fahrzeugen meist 250 kW spenden kann, werden so allerdings nur 120 kW unterstützt. Immerhin besser als beim Mercedes CLA EQ, den man an solchen Säulen überhaupt nicht laden kann; erst ab Frühjahr 2026 soll ein Booster eingebaut werden. Der A6 e-tron schafft an 400-Volt-Säulen mit seinem Bankladen 135 kW. Und nach Erfahrungen von Usern aus dem Porsche-Fahrer-Forum PFF lädt auch ein Taycan am Supercharger nur mit 125 bis 140 kW. Eine Zeitangabe für das 400-Volt-Laden macht Volvo nicht, aber mit 150 kW Ladeleistung soll es 30 min dauern - das ist vertretbar.
Mein erster Fahreindruck auf der Autobahn ist der eines erstaunlich agilen Autos: Ich hatte nicht gedacht, dass sich der 2,4-Tonner mit dem 245 KW starken Heckmotor so schnell in Fahrt bringen lässt.
Die Rekuperation kann man über eine Taste in der kontextabhängigen Touchscreen-Leiste einstellen. Aktiviert man das One-Pedal-Driving, dann ist die Bremswirkung nur mittelmäßig, aber man kommt bis zum Stillstand. Außerdem gibt es noch die Modi Auto (abhängig vom Vordermann) sowie Aus. Der Bordcomputer gab bei meiner ersten Testfahrt einen Verbrauch von 20 kWh an, bei der zweiten waren es 18 kWh - Nachkommastellen werden nicht angezeigt. Damit verbrauchte ich etwas mehr als nach Norm (15,9-18,5 kWh), aber ich war auch viel bei Tempo 100 auf der Autobahn unterwegs.
Bei meinem Testwagen war das adaptive Luftfahrwerk verbaut. Damit wirkte der Wagen bei schnellen Links-Rechts-Schlenkern zunächst ziemlich wackelig und schwammig. Als ich das Fahrwerk auf Firm einstellte, entsprach der ES90 jedoch meinen Vorlieben, war weder zu hart noch zu weich und wankte vor allem nicht. Serienmäßig wird ein Stahlfahrwerk verbaut, das laut Preisliste dynamisch abgestimmt ist, also wohl etwas härter sein dürfte.
Das Luftfahrwerk ist bei der mittleren Ausstattung Plus für 2.530 Euro bestellbar, bei der Topausstattung Ultra ist es Serie. Ein weiterer Vorteil des Luftfahrwerks ist, dass sich der Wagen zum Be- und Entladen per Taste im Kofferraum absenken lässt.
Der lange Radstand mag auf langen Autobahnetappen wegen des Geradeauslaufs hilfreich sein - Stichwort "Länge läuft". In engen Innenstädten ist er ziemlich hinderlich. Um keine Ecke mitzunehmen, muss man immer ein bisschen weiter ausholen. Eine Hinterradlenkung wäre hier hilfreich, aber Volvo bietet keine an.
Den Volvo ES90 gibt es ab 71.990 Euro. Dafür erhält man die bereits sehr gut ausgestattete Version Core mit 20-Zoll-Alurädern, elektrisch einstellbaren Vordersitzen, Vier-Zonen-Klimaautomatik, sensorgesteuerter Heckklappe und Wärmepumpe. Die würde für mich ausreichen, vorausgesetzt, das hier ausschließlich offerierte Stahlfahrwerk ist ausreichend komfortabel - da hilft nur eine Probefahrt, denn wir konnten diese Version nicht testen.
Für 4.000 Euro Aufpreis gibt es die Version Plus mit Head-up-Display, Sitzheizung hinten, Bose-Audiosystem, Kontrastnähte, einstellbarer Beinauflage vorne, elektrisch einstellbares Lenkrad und mehr. Für nochmal 8.000 Euro mehr wird die Version Ultra verkauft, die das Luftfahrwerk, ein elektrochromatisches Glasdach, 21-Zöller, Matrix-LED-Scheinwerfer, Massagesitzen, Soft-Close-Türen und Rundumsicht-System bietet.
Der härteste Rivale des Volvo ES90 in der getesteten Basisversion ist der Audi A6 Sportback e-tron. Wenn man nur die technischen Daten heranzieht, ist er etwas besser. Vergleicht man mit der etwas teureren Performance-Variante, dann sogar deutlich.
Andere Premium-Limousinen der oberen Mittelklasse wie der BMW i5 und der Mercedes EQE sind in Teildisziplinen gleich gut oder besser als der Volvo, können aber beim Laden nicht mithalten. Der kleinere Merceds CLA EQ ist für Langstrecken mindestens ebenso gut geeignet wie der Volvo, bietet aber weniger Platz im Innenraum und nur einen kleinen Kofferraumdeckel. Wenn Sie mehr zu den ES90-Rivalen wissen wollen, empfehlen wir unseren umfangreicheren Konkurrenz-Vergleich.
Der Volvo ES90 bietet schon in der Basis einen überraschend agil wirkenden 245-kW-Heckantrieb, ein gutes Luftfahrwerk und ein gutes Betriebssystem auf Basis von Android Auto mit schicken Google-Earth-Karten.
Bei den reinen Elektrodaten - vor allem Reichweite und Schnellladen - ist er gut, gehört aber nicht zur Top-Garde. Ein Techie wie ich findet nichts, bei dem einem der Unterkiefer herunterfällt. Auch die Alltagstauglichkeit ist meiner Ansicht nach eher mau. So bringt das üppige Platzangebot im Fond einer europäischen Familie nicht viel, denn da sitzen hinten nur die Kinder. Besser eignet sich der ES90 als Chauffeurslimousine. Wenn man selbst hinten sitzt, muss man sich auch nicht über die komplizierte Spiegeleinstellung und dergleichen ärgern.
Wer wird sich also für einen Volvo ES90 entscheiden? Weder Techies noch Menschen, denen es auf hohe Alltagstauglichkeit oder sportliches Fahren ankommt. Sondern Leute, die sich in das skandinavische Design und die klare, einfache Optik verliebt haben und die Individualität eines Volvo schätzen. Und tendenziell hinten rechts sitzen und sich fahren lassen.